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Völlig verzweifelt!

Ich war in eine Konferenz eingebunden. Es schellte. Ein kleinwüchsiger Mann aus Syrien stand zitternd und weinend vor mir. Ich hatte ihn und seine Familie in der vergangenen Woche besucht. Er sprach kaum Deutsch und war nicht in der Lage zu reden. Zunächst verstand ich gar nicht, worum es ging. Langsam kam heraus, dass der ältere Sohn der Familie - 5 Jahre - vermißt wurde. Der Mann und seine Frau waren aus ihrer Wohnung gekommen und hatten ihr Fahrrad aus der Garage geholt. Als sie Augenblicke später zurück waren, war ihr Ältester weg.
Der Mann war völlig aufgelöst. Er drohte zusammen zu brechen. Seine Frau konnte ich nicht erreichen, sie ging nicht ans Telefon, war ebenfalls total verzweifelt und auf der Suche nach ihrem Kind. In diesen Tagen vor 4 Jahren hatte sie ihren Bruder im Syrienkrieg verloren.
Ich kontaktierte die Polizei. Sie nahm den Fall sofort auf und versprach zu kommen. Minuten verstrichen. Wir standen draußen. Der Mann war wieder losgelaufen, sein Kind zu finden. Seine Frau kam. Sie wollte nicht ins Haus gehen, da sie hoffte, durch einen Zufall ihren Sohn auf der Straße zu sehen. Mit nur einer dünnen Jacke bekleidet blieb ich bei ihr. Wir standen schweigend beieinander. Ich betete. Nach über 15 Minuten entschied sie, mit ins Haus zu gehen. Die Teilnehmer der Konferenz warteten ebenfalls. Aber diese Situation galt es nun zusammen zu leben. Ich hielt die Angst und die Unwägbarkeiten mit der syrischen Frau aus. Immer wieder weinte und schluchzte sie. Unter ihrem Kopftuch kullerten dicke Tränen der Verzweiflung hervor. "Mein Bruder tot - jetzt auch mein Kind?" fragte sie verzweifelt. Dabei war die Familie doch nur der Kinder wegen nach Deutschland gekommen. Ich gab dem Kleinsten Jungen bunte Smaties. Seine Augen leuchteten auf.
Erneut rief ich die Polizei an. Es waren schon über 30 Minuten verstrichen. Dann die Info von
der Polizei: "Warten sie, wir bekommen da gerade von unseren Kollegen einen Funkspruch: Kind gefunden! Wir wissen aber noch nicht, ob es das Gesuchte ist!" Nach wenigen Minuten wußten wir: Es ist das Kind...
In diesen Augenblicken kam eine erwartete Gruppe von Hauptberuflichen aus unserer Bistumsstadt, die sich mit dem Thema "Evangelisierung" befassen. Sie kamen mitten in die Situation, die sich gerade auflöste. Die Mutter radelte mit dem Kleinen zurück zu ihrer Wohnung. Kurze Zeit später kam der Vater mit dem Ältesten, der - kindlich unbescholten - gar nicht wußte, was geschehen war... Da ich ihm schon einige Male ein kleines Geschenk gegeben hatte, fragte er mich sofort: "Hast Du eine Geschenk für mich?" - Dabei war er doch das Geschenk für uns alle.
Sofort waren die Besucher drinnen im Geschehen der Evangelisierung - von den Wunden her. Als ich nach 4 Stunden gemeinsam mit ihnen verbrachter Zeit noch zu einem kurzen Gebet zur Kirche ging, hörte ich eine Frau hinter mir sagen: "Jetzt verstehe ich, die Flüchtlinge sind wirklich eine Chance für uns als Kirche!" - Ja, wenn wir die Wunden unserer Zeit berühren und uns von den Augenblicken, die Gott uns schickt nehmen lassen, dann sagt jeder neu sein: “Mein Herr und mein Gott!”