Ich bin glücklich!
Mitten im Vormittagsgalopp klingelte mein Telefon. Eine Frau ruft an, mit aufgeregter Stimme. Sie setzt sich sehr für einige Asylantenfamilien ein. Einer syrischen Familie hatten wir zu helfen versucht, ihre Eltern aus dem vom Bürgerkrieg geschüttelten Land hier nach Deutschland zu holen. Lange hatten sie in der Türkei, später in Bulgarien festgesessen. Es war gelungen, Ausreisepapiere nach Deutschland zu organisieren. Es schien nur noch eine Frage von Stunden, wann das alte Ehepaar, die so viel durchgemacht hatten, hier in Deutschland ankommen würde. Und dann dieser Anruf: „Die beiden alten Leute sind auf dem Flughafen von Sofia von der Polizei aufgegriffen worden…“ Wieder schien alles zu versanden. Wieder schien die kleine Hoffnungsflamme zu ersticken. „Jetzt hilft nur noch beten!“ hörte ich am Telefon. Sofort griff ich meinerseits zum Telefon und rief einige junge Leute an, mit der Bitte, um Menschen in Sofia zu beten, die sich nicht von Vorschriften leiten, sondern in ihrem Herzen berühren ließen. Ich selber ließ mein Alltagsgeschäft und betete einen Rosenkranz für diese Menschen in Not. Dann legte ich alles in die Hände Gottes. Spät abends klingelte erneut das Handy: „Der Sohn ist nach Berlin gefahren! Seine Eltern sind dort angekommen!“ Nach 16 Jahren konnte er sie beide erstmals wieder in den Arm schließen. Später fand ich eine SMS von ihm. Er schrieb: „Was für eine Freude, meine Eltern jetzt hier in Deutschland zu haben. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll! Ich danke millionenfach! Immer wieder danke!“ Als ich das las, rollten mir Tränen über meine Wangen. Die Worte Jesu, die tätige Liebe ganz konkreter Menschen und unsere bittenden Worte an Gott hatten das Wunder geschehen lassen!
Es schellt. Nein, nicht das Handi, sondern die Tür. Mein Tag ist übervoll. Nein, unmöglich, jetzt auch noch an die Tür zu gehen... Das Motto kommt mir in den Sinn. Es gilt, bei jedem Klingeln Jesus zu erwarten und ihm mit einem Lächeln zu sagen: “Ich nehme die Einladung an!”
Also öffne ich - auch wenn mich das Lächeln einiges kostet. Vor mir steht ein guter Bekannter. Vor Jahren habe ich mit ihm studiert. Von fern her war er gekommen. “Klaue ich Dir Deine Zeit?” fragt er mich als erstes. “Ganz daneben liegst du nicht!” antworte ich schmunzelnd, “aber ein wenig Zeit ist immer da. Komm gern rein!” Er setzt sich. Vor einigen Monaten ist seine Mutter gestorben. Sofort beginnt er zu erzählen. Mittlerweile ist auch sein Elternhaus vermietet. Er hat keinen Ort mehr, wo er wirklich hin gehört. “Willst Du ‘nen Kaffee?” frage ich. Gern willigt er ein. Wir reden über eineinhalb Stunden. Meinen Tagesplan hab ich in die Hände Gottes gelegt. Mehr und mehr erzählt er aus seinem Leben und von seinen Träumen, jetzt, wo er keinen Ort mehr hat. Es tut gut, dem Bruder diesen Raum schenken zu können. “Wie schön, dass du mir deine Zeit geschenkt hast!” sagt er mir zum Abschied. Ich biete ihm an, immer wieder vorbei zu kommen, “denn ein Bett für dich haben wir immer frei!” - “Das ist ein Angebot! 1000 Dank. Ich komme wieder!” Dann geht er. Ich spüre eine tiefe Freude in mir, einem Bruder für ein paar Augenblicke in meinem Herzen Heimat gegeben zu haben. Mit dieser Erfahrung geht er weiter. Wir sind verbunden.
Mein Handy “brummt” - eine SMS ist angekommen. Darin bekomme ich die Botschaft über einen jungen Menschen, den ich gut kenne: “Es geht ihm nicht gut! Er wird sich bald bei dir melden!” Das Handy in der Hand haltend kommt mir sofort der Impuls dieses Monats, Jesus mit einem Lächeln zu sagen. “Ich nehme deine Einladung an!”
Als sich der Jugendliche auch nach einer Stunde noch nicht gemeldet hat, rufe ich ihn an. “Oh, wie schön, dass Du anrufst!” höre ich. Über eine Stunde reden wir am Telefon. In eine ihm wichtige Freundschaft hatte er all seine Kraft und Liebe investiert, aber sein eigenes Leben und seine eigenen Bedürfnisse schienen dabei viel zu kurz zu kommen. Er wurde immer trauriger. Lange tauschen wir uns über das Geheimnis von Beziehungen aus, über Nächstenliebe und Selbstsorge und über seine konkrete Situation. Am Ende höre ich: “Oh, mein Herz hat richtig durchatmen können! Danke dafür!”
Lange hatte ich in einem Buch gelesen. “Jesus ist überall dort, wo Menschen Not leiden- überall dort sind sie (und Er in ihnen) für uns wie ‘eine Gelegenheit’, wie ein geöffnetes Tor zum Vater.” Dieser Satz war mir geblieben und beschäftigte mich sehr. So brauchte ich eine kleine Pause zum Verarbeiten - richtig gemütlich mit einer Tasse Tee...
Kaum hatte ich mich zurückgezogen, als mein Telefon klingelte. Ich wollte schon fast innerlich murren, doch zum Glück hatte ich auch das Monatsmotto im Herzen “Ich nehme deine Einladung an” , also hob ich ab. Eine Frau, bei uns in der Stadt im Asylantenheim wohnend, bat für eine weitere dort untergebrachte Frau aus Eritrea um Hilfe. Diese Menschen dort leiden wirkliche Not, also habe ich mich auf gemacht, um zu sehen, wie ich helfen kann. Letztlich war es für mich eine Kleinigkeit, die ich tun konnte, die Frau war aber sehr glücklich. Wir mussten eine kurze Wegstrecke mit dem Auto fahren und dort erzählte sie dann Einzelheiten ihrer Flucht: Alle ihre Eindrücke könne sie noch nicht verarbeiten, die europäische Kultur sei ihr auch noch so fremd. So viel habe sie zurücklassen müssen....Sie fing an zu weinen. “Die schlimmsten Bilder werde ich aber wohl nie vergessen. Ich bin über Lampedusa gekommen!” hörte ich sie sagen. Ich war starr vor Entsetzen. Diese Bilder, die ich ja lediglich aus den Medien kannte, hatten mir schon ziemlich zugesetzt. Und sie hatte es live erleben müssen! “Erst sind wir ja durch die Wüste geflohen. Schon dort sind so viele Kinder und auch schwangere Frauen gestorben. Es gab einfach nicht genug Wasser. Wir, die wir bis zu den Booten kamen, waren so voller Hoffnung. Aber es war so voll auf dem Boot und irgendwann war auch dort kein Trinkwasser mehr vorhanden. Wieder musste ich erleben, dass Menschen starben. Und dann das Unglück. Ein Boot kenterte....Wie viele Menschen musste ich ertrinken sehen. Kinder, Männer und Frauen trieben einfach auf dem Meer....” Ihre Tränen liefen unaufhaltsam. Was für ein Schmerz!
Wieder zurück beim Asylantenheim, saßen wir noch einen Moment zusammen im Auto und hielten uns an den Händen. Langsam versiegten unsere Tränen. Meine Begleitung entschuldigte sich für all ihre Tränen und die furchtbaren Schilderungen. Ich hoffe, dass ich ihr deutlich machen konnte, wie sehr jede Träne ein großes Geschenk für mich ist und dass ich glücklich bin, wenn ich diese furchtbare Not und alle ihre Schmerzen nur ein wenig mittragen kann.
Mit einer innigen Umarmung und beide tief bewegt, aber glücklich, haben wir uns dann voneinander verabschiedet.