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Ich bin glücklich!

Mit einer Gruppe junger Leute war ich aus Auschwitz heim gekehrt. In einer Mail erwähnte ich beiläufig dieses Faktum. Ich erhielt eine bewegende Antwort: “Vor einigen Jahren bekam meine Mutter, deren Vater in Polen vermisst wurde, zum erstenmal Gewissheit über den Tod Ihres Vaters - 58 Jahre nach Kriegsende. Meine Oma hatte bis dahin noch nicht einmal Witwenrente beziehen dürfen. Die letzten sterblichen Überreste meines Opas wurde aus der Ukraine nach Polen überführt, weil dort ein Friedhof für deutsche Soldaten entstehen sollte, 10 km nördlich von Kattowice, etwas nördlich von Semianowicze. Überstellt wurden damals auch die letzten Aufzeichnungen meines Opas, in denen die Märsche seiner kleinen Einheit nachvollziehbar waren. Ich bin daraufhin mit dem Rucksack in diese Gegend geflogen. Der Flughafen Kattowice liegt nochmals 40 km nördlich. Auf den Spuren meines Opas bin ich dann durch Wälder und Ortschaften gestreift., bin oft an Flüssen hängen geblieben, die es in dieser Gegend so zahlreich gibt.
 Mein Weg führte mich auch nach Oswieciem. Dort kannte zunächst keiner der Einheimischen diesen Ort Semianowicze, ein Ort des Gedenkens und Erschreckens. Ich war ziemlich hilflos. Schließlich fand ich eine Art Jugendherberge, die Jugendgruppen im Gedenken an Auschwitz aufnimmt, ganz in der Nähe der Lager I und II. Dort lernte ich einen Kanadier mit polnischer Abstammung kennen, der den Weg von Südspanien mit einem alten Rad bis nach Südpolen auf sich genommen hatte. Ken war bereits 69 Jahre alt und hatte - obwohl er seit Monaten mit dem Rad unterwegs war - stets ein frisch gebügeltes weißes Hemd dabei. Ich kam mir in meiner Pfadfinderkluft und der Outdoor-Ausstattung schon etwas seltsam vor. Ken wollte einfach mal sehen, von welchem Ort seine Oma ihn damals mitgenommen hatte, um ihm Verfolgungen zu ersparen.
 Der Besuch beider Lager, vor allem die geplante Größe der Lager III und IV, gehört für mich zu den bewegendsten Momenten meines Lebens. Eine Gruppe israelischer Jugendlicher war da. Kurze beeindruckende Gespräche.  Ich hatte in meinem Theologiestudium viel über diesen Krieges nachgedacht - aber eine Verbindung zu den Beschädigungen meiner Eltern und deren Familien habe ich erst in diesen Augenblicken bekommen - und eine gefühlte Verbindung zum polnischen Volk. - Zurück zum Friedhof von Semianowicze. Zwei alte polnische Frauen sorgten für die Grabpflege auf diesem riesigen Areal - freiwillig, ohne Geld. Sie konnten mir ohne zu Zögern eine Stück Gras zeigen, von dem sie mir versicherten, dass mein Opa direkt hier begraben sei. Mein kleines polnisches Wörterbuch stieß an seine Grenzen. In diesen Augenblicken habe ich mich gefragt, wie Menschen eines so geplagten Volkes die Größe aufbringen können, eine solche Arbeit zu leisten.
 Zwei Jahre später bin ich, dann allerdings nicht allein, mit dem Rad von Frankfurt/Oder nach Danzig gefahren. Auch hier erlebte ich vor allem in den Dörfern Menschen mit einer ungeahnten tiefen Beziehung zum Leben ungeachtet aller Armut.
 Wieder zwei Jahre später wollte ich meinen Eltern auch einen Besuch dieses Friedhofes ermöglichen, buchte Flüge, mietete ein Auto und wir fuhren durch diese Gegend und zu den Orten der Erinnerung. Meine Eltern flogen zum ersten und zum letzten Mal. Der Besuch in Auschwitz war dann schon zu viel der Eindrücke für meine Eltern. Mein Vater starb kurze Zeit später.  Das erinnere ich, wenn ich an Auschwitz denke.”

Alle katholischen Bewohner des Altenzentrums hatten wir uns vorgenommen zu besuchen. Wir wollten heraus finden, wen wir noch zum Gottesdienst in die Kapelle abholen und wem wir die Kommunion aufs Zimmer bringen sollten. So klopften wir an einer Zimmertür. Sofort spürten wir:  hier ist es anders, als bei den anderen Bewohnern. Ein Gerät piepste, ein Infusionsautomat stand in der Ecke... Wir gingen zum Bett der alten Frau und begrüßten sie. Ich nahm ihre Hand und sie schaute uns mit unsicheren Augen an. Wir stellten uns vor.  Sie wurde unruhig, röchelte noch mehr. Mir war nicht klar, ob diese Frau uns verstehen konnte. Im hilflosen und unsicheren Blick dieser Frau, hörte ich förmlich den Ruf Jesu:  "Mich dürstet “
Von der Stationsleitung erfuhr ich, dass diese Dame alles verstehen und sich nur schriftlich äußern konnte. Ich war sehr betroffen, von diesem Zustand der Hilflosigkeit, bei vollem Verstand...  Die Frau hatte sich zu äußern versucht und wir hatten sie nicht verstanden!  Erneut suchten wir sie auf. Leicht war das nicht! - Erneut nahm ich ihre Hand und sprach lauter als vorher. Dann würde sie verstehen, hatten uns die Schwestern wissen lassen. - Aber sie verstand nicht. Auf einen ihr hingehaltenen Zettel schrieb sie: “Habe nicht verstanden.  Lauter reden!”  Da ich nicht noch lauter reden konnte, was mich sehr betraf, schrieb ich auf, warum wir gekommen waren. Sie las, schaute uns an und auf einmal war ihr Blick voller Freude! Sie zauberte sogar ein Lächeln auf ihr Gesicht! Nach dem nächsten Gottesdienst nun werden wir ihr die Kommunion bringen. Mich dürstet! Wie gut, dass wir nochmal nachgehakt haben, wie gut, dass wir vor dieser Schwere und Beklemmung nicht weggelaufen sind!

Schwer pflegebedürftig war sie geworden. Ihr Mobilisationsrollstuhl, der sie noch etwas am Leben hatte teilnehmen lassen, war defekt. Als ich sie besuchte, fing sie  an zu weinen, weil sie 1000 Euro zu den Reparaturkosten beisteuern sollte, die sie aber nicht hatte. Mir tat das so weh, zumal diese Frau sich überall verschenkte, wo sie nur konnte. Auch jetzt, in ihrem begrenzten Aktionsradius “Bett”, malte sie kleine Bilder, häkelte Topflappen, um anderen eine Freude zu bereiten. Aber alle geselligen Veranstaltungen im Gemeinschaftsraum und in der Kapelle blieben ihr versagt, weil ihr Rollstuhl kaputt war. “Mich dürstet!” kam mir in den Sinn. Wie war Hilfe möglich? fragte ich mich. Ich rief bei den Verantwortlichen der Wohnanlage an. Aufgrund angeblichen Selbstverschuldens - zwei Teile des Rollstuhles, die eher selten kaputt gehen, waren defekt - sollte die Frau viel Geld aus eigener Tasche zahlen. Aber mein Anruf zeigte Wirkung! Beide Teile wurden bestellt! Sie werden in wenigen Tagen eingebaut - ohne Zuzahlung!

Wie so oft, brachte ich mein Kind zum Sport. Dieses Mal, ich weiß nicht warum, stieg ich aus, um eine Mutter zu grüßen, die ich zufällig sah. Im Laufe des Gespräches erzählte ich vom Todesfall eines kleinen Kindes, ganz in meiner Nähe. Die Reaktion der Frau, die ich seit einigen Jahren relativ gut kenne, war für mich völlig unerwartet. Sie selber erzählte, dass sie eine Totgeburt hatte, kurz vor dem Kind, das sie gerade zum Sport gebracht hatte. “Das war ganz schrecklich!” erzählte sie, “damals musste alles so schnell gehen. Ich hatte gar keine Zeit alles zu verarbeiten. Und heute? Mir fehlt jede Erinnerung. Ich habe kein Bild von meinem Kind und keine Ahnung mehr, wie sie aussah, unsere Tochter. Niemand hat uns Zeit gegeben, noch nicht einmal zur Beerdigung.” Mittlerweile füllten Tränen ihre Augen. Ich blieb und erzählte, wie ich versucht hatte, den Eltern des verstorbenen Kindes nahe zu sein, immer wieder neu... Unsere vertrauensvollen Worte ließen eine große Nähe unter uns entstehen.
Tief berührt von diesem Weg bedankte sie sich und sagte: “So eine Begleitung hätte ich mir auch gewünscht. Danke, dass ich erzählen kann. Wie lange habe ich nicht darüber gesprochen! Alles darf man erzählen, nur Dinge, die weh tun, will niemand hören, danke!”