Ich bin glücklich!
Loyal und ehrlich hatte er gearbeitet - über lange Jahre hinweg. In einer Sitzung im engsten Mitarbeiterkreis hatte er Dinge benannt, die - für alle offensichtlich - nicht optimal gelaufen waren. Das hatte ihm sein Chef übel genommen. Er hatte es sogar als fehlende Loyalität ausgelegt, ohne das jedoch direkt zu sagen. Von weit her war er gekommen. Als ich ihn am Bahnhof abholte, scherzten wir - wie gewohnt, aber schon bald war diese schwere berufliche, menschlich total belastende Situation Thema unseres Gespräches. Hinten herum hatte er mitbekommen, dass bereits ein neuer Mann für seinen Posten gesucht wurde. Interessenten waren schon angesprochen worden. Ihm aber sagte niemand etwas davon. Es war auch klar, dass er in den nächsten Wochen seinen Chef aufgrund vieler internationaler beruflicher Verpflichtungen nicht würde sehen können. So blieb diese Situation schwer. Wir hielten sie aus - gemeinsam.
Wie konnte ich den Durst Jesu in diesem Menschen stillen?, fragte ich mich immer wieder. Wie konnte er noch tiefer mein Mit-Sein, mein Bruder-Sein spüren? Ich kaufte noch ein paar ganz leckere Süßigkeiten. Sein Zug - am Tag seiner Abreise - ging sehr früh. Meine Nacht hatte nur knapp drei Stunden Zeit zum Schlaf gewährt. Als ich aufstand und einen Kaffee bereitete, spürte ich: Diese kleinen Schritte für den Bruder sind meine Liebe! Ich fuhr ihn zum Bahnhof. Wir versprachen einander unser Gebet. Tage später eine Mail: “Ich bedanke mich für die schönen, brüderlichen Tage!”
“Ich mache gerade die schwerste Zeit meines Lebens durch!” lese ich in einer Mail. Diese Botschaft ist gekoppelt mit der Frage, ob wir uns möglichst schnell sehen können. “Mich dürstet!” schießt mir sofort durch den Kopf! Jesus ruft in dieser Mail! Meine Tage sind übervoll. Aber wenn ER ruft, ist das wichtiger als alles andere, denke ich. So mache ich mir ein großes Zeitfenster am nächsten Tag frei. Wir vereinbaren ein Treffen. Als wir uns sehen, schaue ich in die verweinten Augen eines jungen Mannes. Er hatte mehr gelassen als viele andere, um mit seiner Frau ein gemeinsames Leben zu beginnen. Sie waren glücklich. Alles schien gut zu laufen. Und dann war da plötzlich eine geheime Verliebtheit seiner Frau zu einem anderen Mann. Mein Gesprächspartner hatte es gespürt, dass sich in seiner Frau etwas verschlossen hatte. Er hatte versucht, sie zu lieben - mit aller Phantasie und Feinfühligkeit. Aber es war keine Entwicklung mehr in ihre Beziehung gekommen. Eine nächtliche sms hatte alles offenbart. Tränen waren geflossen, die ganze Nacht hindurch. Unfähig schien er, den normalen Alltag zu vollziehen. Alles brach zusammen. Eine Zukunft schien nicht mehr möglich. Wir sprachen lange, versuchten zu verstehen, versuchten die Verschiedenheit von uns Menschen zu ergründen udn begannen langsam “Krisen” als Chancen zu begreifen. Wenn wir sie annahmen, waren sie kein Brett mehr, vor das wir laufen, sondern wurden zum Sprungbrett in eine verbindlichere Wirklichkeit... Als er ging, schien seine Hoffnung ein wenig aufgeflammt zu sein, aber noch sehr fragil. Eine halbe Stunde später kam seine Frau. Auch dieses Mal ein tiefes ehrliches Gespräch. - An diesem Abend betete ich lange für die beiden. Der Raum zwischen ihnen sollte offen bleiben für den, der allein heilen und Neu-Anfang schenken kann. Am nächsten Tag eine Kurzbotschaft: “Die Zukunft sieht nicht mehr so düster aus wie gestern!”
Tief in der Nacht finde ich noch eine Mail: “Ich weiß nicht, was da manchmal mit mir los ist!” Plötzlich werd ich "wach" und weiß nicht, was die letzten zwei Stunden war. Obwohl viel Stress der vergangenen Wochen von mir abgefallen ist, habe ich nicht das Gefühl, dass es ruhiger wird. Und dann kam eine Begegnung, auf die ich mich echt gefreut hatte, aber irgendwie war ich gar nicht richtig da. Es fiel mir so schwer "anzukommen", "loszulassen", dabei hatte ich mich so lange auf den Termin gefreut. Danke, dass du noch angerufen hattest. Mir ging es wirklich nicht gut. Ich hatte das Gefühl irgendwie nicht "gelebt" zu haben, die Zeit ist einfach an mir vorbei gerauscht. Ich saß - wie gelähmt - auf meinem Sofa, starrte vor mich hin und Tränen liefen über meine Wangen... - “Mich dürstet!”
Ganz urplötzlich war bei ihr aggressiver Krebs in der Lunge fest gestellt worden. Nun hatte sie schon 6 schwere Chemo-Therapien hinter sich gebracht - vorbildlich getragen. Nach jeder Therapie hatte sie zwei schwere Wochen mit stärksten Schmerzen durchzustehen gehabt. Augenblick für Augenblick hatte sie verschenkt - stundenweise aufgeteilt. Ich war berührt von diesem konkreten Leben. Selbst aus dem Schmerz hatte sie ein Geschenk der Liebe gemacht. Ich rief an, um zu fragen, wie es geht. Nun stand die Zeit der Bestrahlung an. Knapp einen Monat - täglich. Wie ihr schon stark geschwächter und schmerzerfüllter Körper reagieren würde, wußte sie nicht. “Bitte betet weiter für mich!” höre ich sie sagen. Ich spüre, wie Jesus in diesem Menschen seinen Durst heraus-ruft. Wir gehen diesen Weg des Leidens weiter - in tiefer Verbundenheit.