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Ich bin glücklich!

Der Tag war lang und arbeitsreich gewesen. Kurz vor Mitternacht musste ich noch jemandem vom Flughafen abholen. Das bedeutete über eine Stunde Hin- und genauso lange Rückfahrt. Morgens im Gottesdienst hatte ich meinen Augen nicht getraut. Die Mutter, die mit ihrem Kind bei Nacht und Nebel abgeschoben worden war, saß in der Kirche. Später erfuhr ich, dass sie aus dem Nachbarland zurückgekommen waren. Jetzt waren sie auf dem Weg zur Erstaufnahme-Einrichtung, damit ihr Fall nochmals aufgerollt werden sollte. Ob das gelingen würde, war nicht klar. Auf meiner Fahrt hatte ich Zeit zu beten. Ich legte das Schicksal dieser beiden Menschen inständig an Gottes Herz. Mehr konnte ich im Augenblick nicht tun. Am nächsten Morgen erhielt ich die Botschaft: „Es ist ein Wunder, gerade in der augenblicklichen politischen Stimmung! Der Fall der beiden wird nochmals grundlegend geprüft. Sie dürfen in unsere Stadt zurück und die Kleine darf wieder bei ihren Freundinnen und ihrer liebevollen Lehrerin weiter lernen, in Sicherheit und Wärme. Jesus hat sie beschützt. Es gibt Hoffnung! Danke für deinen Beistand  und deine Gebete!“

In einer Mail lese ich: Meine Tochter wurde ins Krankenhaus gerufen und wartete in einem Raum vor der Kranken-Station, in der ich untersucht wurde, umringt von mehreren tief verschleierten  Frauen. Eine dieser Frauen fragte meine Tochter, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie vor der Station für ihre eigene Mutter beten würden. Alle legten ihre Jacken und Mäntel auf den Boden, knieten sich hin und beteten. Anschließend wurde meine Tochter gefragt, warum sie hier sei. Sie erzählte, dass sie für mich, ihre Mutter, gekommen sei. Daraufhin legten wieder alle ihre Mäntel auf den Boden und beteten, dieses Mal  für mich.

Abgeschoben, bei Nacht und Nebel. Sie kamen morgens früh, pochten ganz laut an die Tür, nahmen das Handi weg und dann ging alles ganz schnell. In Straßburg wurden sie einfach auf die Straße gesetzt, eine kranke Mutter und ihr kleines Kind. Hart und unmenschlich. In einer Nachricht lese ich: „ Wir hatten Gegenstände für den Haushalt, Schulmaterial und Spielsachen gesammelt, das Mädchen – eine Grundschülerin -  konnte zusätzliche Deutschstunden bekommen und einen Zeichenkurs besuchen. Sie wollten sich in unserer Gemeinde engagieren, in der sie so viel Liebe erfahren haben. Die Mutter stand kurz vor der Taufe. Sie hat viele Textstellen aus dem Neuen Testament abgeschrieben und ich wünsche ihr sehr, dass sie sich jetzt daran festhalten kann.“ Auch an diesem Abend wieder neu lege ich den ganzen Schmerz des Tages in die Hände Jesu. In Stille entzünde ich eine Kerze und denke an die vielen, die heute ihren Schmerz geteilt haben.

Eine Freundin schickte mir einen Artikel, den ich Mitte der 90ger Jahre verfasst hatte. 30 Jahre sind seither vergangen. Ich lese die Zeilen. Sie berühren mich tief: Ein langer Arbeitstag geht zu Ende. Das Telefon klingelt. Eine unbekannte Frauenstimme meldet sich vom Bahnhof Bielefeld. Sie fragt, ob ich Kalle kenne. – Ja, ich kenne ihn. Kalle war ein drogenabhängiger junger Mann, der für einige Zeit bei uns in Hardehausen gelebt hatte. Die Frau erzählt mir, sie habe Kalle im Bielefelder Drogenmilieu gefunden und nun stehe er auf dem Bahnhof und nenne immer wieder meinen Namen. Mir ist sofort klar, dass ich den Rest meines Tages neu planen muss. Neunzig Minuten später bin ich am Bielefelder Bahnhof. Ich suche und finde Kalle.

Er schaut mich an und kommt langsam auf mich zu. Ich spreche ihn an. Seine Augen sind glasig. Er ist vollgepumpt mit Drogen. Er beginnt zu weinen und wiederholt immer wieder meinen Namen: „Meinolf, Meinolf!“ Ich nehme ihn in den Arm. Er weint bitterlich. Ich frage ich, ob er mit mir nach Hause fahren will.“