Ich bin glücklich!
In meiner Nachbarschaft wohnt eine Frau, die ursprünglich aus der Ukraine stammt und schon länger hier wohnt. Sie hat zwei erwachsene Söhne, die wegen des Krieges noch in der Ukraine leben und das Land nicht verlassen können. Seit einigen Tagen spürte ich den Impuls, zu ihr zu gehen und ihr ein Zeichen der Verbundenheit zu schenken. Aus verschiedenen Gründen war ich aber unsicher, da ich die Sorge hatte, dass ich ihr vielleicht damit zu nahe treten könnte. Bisher gab es auch keine Gelegenheit, ein paar Worte miteinander zu wechseln. Ich konnte die Situation schwer einschätzen.
Ein kurzes Gespräch mit einem anderen Bekannten machte mir Mut, diese Unsicherheit zu überwinden Ich nahm Blumen und eine kleine Osterkerze und schellte bei ihr. Als sie öffnete, sagte ich ihr, dass ich viel an sie und ihre Söhne denke. Sie freute sich sehr über dieses kleine Zeichen der Verbundenheit. Mit Tränen in den Augen bedankte sie sich und erzählte, dass einer ihrer Söhne in einer Stadt ist, die gestern angegriffen wurde. Als ich wieder Zuhause war, musste ich auch weinen. Soviel Leid überall. Ich bin dankbar , dass ich meine Unsicherheit überwinden konnte und dadurch ein klein wenig Freude schenken und mittragen durfte.
Abends fuhr ich noch in meine Stadt, um mir einen Vortrag anzuhören. Ich fuhr auf den Parkplatz. Es war eiskalt und dunkel. Zudem regnete es stark und kaum jemand war noch unterwegs. Ich wollte schnell in den Vortragssaal, da sah ich einen Mann mitten auf dem Parkplatz stehen, um ihn herum seine Habseligkeiten. Es gab keinerlei Schutz, nicht einmal eine kleine Überdachung. All seine Sachen waren völlig durchnässt, er stand wie erstarrt schutzlos auf dem nackten Asphalt. Es war, als hätte ihn unsere Gesellschaft ausgespuckt und auf diesem einsamen Parkplatz ausgesetzt: Dieses Bild war so unendlich grausam für mich: Ein einsamer ausgestoßener Mensch, seiner Würde beraubt.
Ich ging zu ihm. Er war größer als ich. Als er mich kommen sah, stand in seinen Augen die nackte Angst vor Verachtung. Ich gab ihm etwas und war freundlich zu ihm. Er war maßlos erstaunt. Wie oft musste er sich wie Abfall behandelt gefühlt haben! Als wir einander anschauten, schien die Zeit still zu stehen. Sein Blick war so intensiv, tief und wach. In diesem Augenblick habe ich ihn wirklich geliebt, war ganz für ihn da. Ich spürte eine tiefe Verbundenheit, als würden wir uns schon immer kennen. Wir haben in Frieden miteinander geredet. Als ich gehen musste, rief er mir ein „Danke“ hinterher. Ich wünschte ihm Glück. Er war wirklich mein Bruder. Er hatte mich beschenkt, nicht umgekehrt.
Als ich zwei Stunden später zum Auto zurückkehrte, hatte der Mann sich einen Schutz gebaut. Sein Gesicht trage ich seither in mir. Ich bete für ihn. Ich bin sicher, dass Gott ihn unendlich liebt und er in seinem Reich später einmal einen ganz besonderen Platz einnehmen wird, dann, wenn die Machtverhältnisse, wie wir sie kennen, von IHM komplett auf den Kopf gestellt werden.
Ich weiß um vier Geschwister, zwei Frauen und zwei Männer, die gemeinsam eine Holzwerkstatt betreiben. Wir kennen uns nicht persönlich. Eine der Schwestern, erst knapp über 30, wird in den nächsten Tagen an einer schweren Erkrankung sterben. Trotz geschehener medizinischer Fehler geht diese junge Frau ihren Weg ohne Groll. Ihre ähnlich alte Schwester scheint auch ernsthaft erkrankt. Ich riet ihr über eine Freundin zu einer Untersuchung. Und die sterbende Frau, die mich überhaupt nicht kennt, bedankt sich, dass ich mich so einfühlsam – über die Freundin - um ihrer Schwester kümmere. Das hat mich so dermaßen gerührt, dass mir die Tränen kamen. Ich bewundere diese sterbende Frau. Was für eine Liebe!
Den ganzen Tag war ich für ukrainische Flüchtlinge in ihren Belangen unterwegs gewesen. Ich hatte viele schwere Geschichten gehört. Dann fuhr ich mit einer Helferin nochmals in eine Flüchtlingsunterkunft, um dort 15 Scooter an die Kinder und Jugendlichen weiterzugeben. Ein aufgeweckter 13-Jähriger ließ mich verstehen, dass er lieber ein Fahrrad hätte, so eins, wie ich seinem Freund schon besorgt hatte. Das Tagesmotto kam mir in den Sinn: „Diene dem Leben!“ So gab ich mir trotz vorgerückter Stunde einen Schub und rief an einer Fahrradsammelstelle an. Wir konnten noch vorbei schauen. So fuhr ich mit dem Jungen zur Werkstatt. Voller Hoffnung sprang er aus dem Auto. Aber unter den Fahrrädern war für ihn kein Passendes dabei. Ich spürte seine Enttäuschung und versuchte ihn zu trösten. Als ich ihn zu seiner Familie zurückbrachte, sah ich die gleiche Enttäuschung in den Augen der Mutter. Schweren Herzens verabschiedete ich mich und fuhr noch für eine Zeit der Stille in unsere Kirche. Mir liefen die Tränen und ich ließ Jesus verstehen: „Ich hab heut alles gegeben! Kümmere Du Dich jetzt um ein Fahrrad für den ukrainischen Jungen!“ Als ich spät abends auf mein Handi schaute, ließ mich die Mutter des Kindes, dem ich ein schönes Fahrrad besorgt hatte, wissen, dass ihr Sohn lieber einen Scooter hätte. Sie schrieb: „Und deshalb hab ich das Fahrrad an Jaroslav weitergegeben, denn ich wusste um seine Traurigkeit!“